Feldforschungen in Korsika
5. - 24.9.2006
Korsika ist nicht nur eine landschaftlich bezaubernde Insel, sondern vor allem eine Herausforderung für Sprachwissenschaftler. Seine reichhaltige Sprachgeschichte, die Kontakte und Konflikte zwischen verschiedenen Dialekten und Sprachen, die noch zu ergründenden Daten und Belege sowie verschiedene Interpretationsmöglichkeiten linguistischer Phänomene lassen Raum für weitere Forschungen und neue Erkenntnisse. Für Korsika als eine der Regionen Frankreichs ist Französisch die offizielle Amtssprache, aber auch Italienisch und Sardisch hinterließen wichtige Einflüsse. Das Korsische, dessen Status umstritten ist, hat zu vielen wissenschaftlichen wie politischen Diskussionen geführt. Ist es ein Dialekt des Italienischen? Oder eine romanische Sprache? Sollte es neben dem Französischen als offizielle Amtssprache anerkannt werden? Diese Fragen hängen eng mit der Abgrenzung der Begriffe Sprache und Dialekt zusammen, ein in der Linguistik ebenso umstrittenes Problem.
Zu den vorrömischen Substraten Korsikas zählen Relikte der Sprachen der Ligurer, der Phokäer aus Ionien, die in Korsika Siedlungen gründeten (z. B. Alalia um 560 v. Chr.), der Etrusker und der Karthager. In der Seeschlacht von Alalia (heute Aleria) im Jahre 535 v. Chr. siegten die Phokäer gegen die Etrusker, die mit den Karthagern verbündet waren, verloren aber so viele Schiffe, dass sie Korsika und Sardinien aufgeben mussten. Korsika fiel schließlich unter den etruskischen Einflussbereich, Sardinien unter den karthagischen. Abgesehen vom Griechischen und Punischen weiß man über die vorrömischen Sprachen Korsikas sehr wenig.
Mit der römischen Besetzung der Insel nach dem Ersten Punischen Krieg (264-241 v. Chr.) begann die Romanisierung und damit die Latinisierung, die aber eher schleppend erfolgte. Noch der jüngere Seneca (gest. 65 n. Chr.) beklagte sich während seiner Verbannung nach Korsika über das schlechte Latein der Korsen (Goebl 1988, Bd. IV: 829). Marius und Sulla gründeten in Korsika römische Kolonien, die erste im Jahre 104 v. Chr. in Mariana (bei Lucciana), die zweite 88 v. Chr. in Aleria.
Kathedrale Santa Maria Assunta in La Mariana (bei Lucciana)
In der Nähe dieser Kathedrale fand man Reste der römischen Siedlung La Mariana: eine römische Brücke über den Goto, ein Thermalbad, ein Kanal, Wohnhäuser und Grabstätten.
Die Latinisierung war die Basis für die Entstehung einer romanischen Sprache auf korsischem Territorium. Jacques Fusina plädiert für die Interpretation des Korsischen als Sprache, die das Ergebnis einer Entwicklung aus dem Urlatein ist, und nicht als importiertes oder abgewandeltes Italienisch. Es sei jedoch unmöglich, die Daten dieser Entwicklung genau festzulegen, was auf die extrem bergige und zersplitterte Struktur der Insel zurückzuführen sei (Fusina o. J.)
Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches (395 n. Chr.) kam es in Korsika zu weiteren Invasionen, bis die weströmische Zentralgewalt die Insel aufgab. 410 eroberten die Westgoten die Insel, 455 die Vandalen und 500 die Ostgoten. 536 bemächtigten sich oströmische Truppen des Kaisers Justinian I. der Insel. 575 gelangten die Langobarden nach Korsika. Sie besetzten hauptsächlich Küstenorte, während das Landesinnere in byzantinischer Hand blieb. Zu untersuchen ist, inwieweit die germanischen Völker Superstrateinflüsse hinterließen.
Im frühen 7. Jahrhundert verwüsteten mehrfach die Sarazenen die Küste der Insel, die sie 810 vorübergehend in Besitz nahmen. Der toskanische Graf Bonifatius II. führte 828 einen erfolgreichen Feldzug gegen die afrikanischen Muslime und baute im Süden eine Festung, die den Kern der Stadt Bonifacio bildet.
Bonifacio
Um 930 machte sich der König von Italien, Berengar II., zum Herrscher der Insel. Später wurde Korsika erneut an das Markgrafentum Toskana angeschlossen. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts erhoben die Päpste auf Grund einer Schenkung Karls des Großen Anspruch auf die Insel, woraufhin sich die Korsen 1077 zu Untertanen des Heiligen Stuhls erklärten. Bis zur Gotenherrschaft verlief die Geschichte Korsikas und Sardiniens weitgehend parallel. Unter den Franken jedoch wird Korsika Mittelitalien zugeordnet. Papst Gregor VII. vertraute Korsika im Jahre 1077 der Stadtrepublik Pisa an, in deren Oberhoheit die Insel bis 1284 verblieb. Die pisanische Herrschaft hat sprachlich tiefe Spuren hinterlassen.
Aus dem Konkurrenzkampf zwischen Pisanern und Genuesen, die Korsika offiziell von 1284-1768 als Kolonie besaßen, entsprangen viele Konflikte. Korsika wurde nun vollständig in die Kultur- und Sprachlandschaft Italiens eingegliedert. Ab dem 13. Jahrhundert übernahmen die gebildeten Kreise das Toskanische der Florentiner Klassik, die Sprache Dantes, Petrarcas und Boccaccios, die auch die Basis für die heutige italienische Hochsprache war. Das gesprochene Hochtoskanisch wurde fälschlicherweise als vornehmere Form des gesprochenen Korsischen angesehen. Niemand dachte damals daran, das Korsische zu Papier zu bringen (Goebl 1988, Bd. IV: 829-830). Da sich das Toskanische in Korsika und in Italien separat weiterentwickelte, sind in Korsika heute noch veraltete italienische Redewendungen zu finden, die es in Italien nicht mehr gibt (Fusina, o. J.), das korsische Toskanisch gibt also wichtige Aufschlüsse über frühere Entwicklungsstadien des heutigen Hochitalienischen.
Der toskanische Einfluss führte zum Zusammenbruch der alten linguistisch-kulturellen Einheit von Korsika und Sardinien, das damals unter einer katalanisch-aragonesischen Herrschaft litt. Die Genuesen hinterließen nur wenig von ihrem Dialekt, da auch sie die toskanische Schriftsprache übernahmen. Einmalig ist allerdings der Dialekt von Bonifacio, der von genuesischen Siedlern aus dem Ligurien des 13. Jahrhunderts importiert wurde und später von griechischen Siedlern aus Maina beeinflusst wurde. In Gallura, im Norden Sardiniens, wurde ein Dialekt entdeckt, der nach Fusina (o. J.) eng mit dem Korsischen verwandt ist, da sich hier zu Beginn des 17. Jahrhunderts einige korsische Schäfer niederließen. Er ist wohl als Dialekt des Korsischen zu betrachten.
Seit 1729 tobte in Korsika der Unabhängigkeitskrieg. Mehrfach wurden von korsischer Seite Versuche unternommen, die Insel unter eine autonome Korsische Herrschaft zu stellen. Das war ganz im Sinne der staatspolitischen Ideale der Aufklärung, weshalb auch Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1765 ein Projet de Constitution pour la Corse (ein Verfassungsprojekt für Korsika) entwarf. Im Zuge dieser großen anti-genuesischen Revolte war 1755 der korsische Volksheld Pasquale Paoli (1725-1807) an die Macht gekommen.
Paoli regierte nur 14 Jahre lang, denn im Vertrag von Versailles trat Genua 1768 Korsika an Frankreich ab (zur Geschichte Korsikas siehe auch Colona d’Istria 1995). Diese politischen Ereignisse hatten wiederum ihre linguistischen und soziolinguistischen Konsequenzen. Parallel zum Rückgang des Hochitalienischen setzte sich nun das Hochfranzösische in Wort und Schrift immer mehr durch. Sprachmischungen entstanden, als francorsu bezeichnet, die bald auch auf Spott stießen. Ab 1840 sind Verdammungen von Französismen im Korsischen bekannt. (Nach: Goebl 1988, Bd. IV: 830)
Das Bedürfnis der Korsen nach einer eigenen Identität führte dazu, dass das Korsische programmatisch und mit dem Willen zur eigenen Sprache seit 1896 auch schriftsprachlich verwendet wurde. Die Zeitschrift Tramuntana (Nordwind) erschien, herausgegeben von Santu Casanova (1850-1936). Die neue korsische Schriftsprache eroberte schnell Poesie, Theater und Roman. Ab 1955 (bis 1972) erschien eine weitere korsische Zeitschrift, U Muntese (Der Bergwind), die eine festgelegte Sprachkultur, Sprachauffassung und Literaturtheorie propagierte. Orthographie, Morphologie, Syntax und Lexikon des Korsischen wurden standardisiert.
Blick auf die Università di Corsica Pasquale Paoli in Corte
Korsisch wird heute nicht nur in der Schule – von der Vorschulerziehung bis hin zur Höhere Schule – unterrichtet, sondern auch in der Universität (Goebl 1988, Bd. IV: 831), zum Beispiel in der Università di Corsica Pasquale Paoli in Corte.
Die Linguistik-Abteilung der Università di Corsica Pasquale Paoli in Corte
Noch ist das Korsische nicht im offiziellen Alltag vertreten. Das Französische ist auch im mündlichen Bereich unaufhaltsam vorgerückt und sogar zur Muttersprache vieler Korsen geworden. "Vor unseren Augen hat eine eigenartige Entwicklung stattgefunden, die die Sprache des Brotes – das Französische - Muttersprache und die Sprache des Herzens – das Korsische – zur Zweitsprache, gleichwohl aber dabei zu einer zwar kleinen, doch rundum ausgebildeten neuen romanischen Schriftsprache gemacht hat." (Goebl 1988: 834-835)
Über die Einordnung des Korsischen gibt es geteilte Meinungen. Tagliavini betont den Zusammenhang der toskanischen Mundarten mit den Dialekten Korsikas, die er in zwei Gruppen unterteilt. "Die Grenze zwischen beiden bildet die Gebirgskette, welche die Insel von Nordwesten nach Südosten durchzieht. (Man bezeichnet in der Regel den Dialekt des Nordostens als ‚zismontan’ und den des Südwestens als ‚transmontan’). Der transmontane Dialekt (bes. im Süden) erinnert an Erscheinungen in den sardischen Mundarten… Das transmontane Korsisch bewahrt also mehr Spuren der ursprünglichen sprachlichen Verhältnisse der Insel, die mit dem Eindringen des Toskanischen grundlegen verändert wurden. Heute sind die korsischen Mundarten, vor allem die zismontanen, die den größten Teil der Insel einnehmen, eindeutig toskanischer Natur." (Tagliavini 1998: 333) Fusina (o. J.) betont, dass Korsisch eine romanische Sprache der italienisch-romanischen Gruppe ist und lehnt sich dabei an das Lexikon der Romanistischen Linguistik (Holtus, Metzeltin, Schmitt 1998) an, in dem es in eine Liste von 14 romanischen Sprachen aufgenommen wurde, neben Italienisch und Französisch. Traditionell wurden 11 romanische Sprachen klassifiziert, unter die das Korsische meist nicht gezählt wurde. Nach Helmut Lüdtkes Einteilung gibt es sogar 17 romanische Sprachen. Neben Korsisch gehören dazu unter anderem Asturleonesisch, Aragonesisch und Frankoprovenzalisch, die häufig als "Dialekte" betrachtet wurden. Unter Berücksichtigung der Sprachgeschichte müssten sie aber schon deshalb als romanische Sprachen interpretiert werden, da sie – ebenso wie Französisch, Italienisch und Spanisch direkt aus dem Vulgärlatein hervorgegangen sind und nicht aus einer der romanischen Sprachen, sozusagen als Sekundärdialekte.
Was das Verständnis der Sprachverhältnisse in Korsika so erschwert, ist die Überflutung des Korsischen durch das Toskanische, mit dem es wohl tatsächlich Interrelationen gibt. Trotzdem bleibt das Korsische eine aus dem Latein hervorgegangene romanische Sprache. Schwierig ist die Einordnung der Dialekte. Stammen sie vom Korsischen oder vom Italienischen ab? Welche Sprachmischungen haben sich hier gebildet? Zu untersuchen sind dabei die Korsischdialekte in Korsika und in Gallura (Sardinien) sowie die Italienischdialekte wie das Toskanische und das Genuesische, zum Beispiel der Dialekt von Bonifacio. Schließlich ist zu fragen, welche Formen des Französischen es in Korsika heute gibt. Gibt es tatsächlich nur das offizielle Standardfranzösisch oder haben sich trotz der relativ jungen Geschichte des Französischen in Korsika bereits weitere Varietäten und Dialekte herausgebildet? Da das Französische für viele Korsen zur Muttersprache geworden ist und in der mündlichen Kommunikation sehr häufig verwendet wird, liegt eine solche Entwicklung nahe. Eine bewegte korsische Sprachgeschichte hat eine unglaubliche Vielfalt an sprachlichen Phänomenen hervorgebracht, deren Erforschung noch lange interessante Tätigkeitsfelder und Aufgaben für die Linguistik bereit halten wird.
Literatur
Agostini, Pàulu Marìa (1995): L’usu di a nostra lingua. Grammaire descriptive corse. Phonétique et orthographe, morphologie et syntaxe dans les parlers du Nord et du Sud de l’île. Biguglia: Pierre Dominique Sammarcelli
Colonna d’Istria, Robert (1995): Histoire de la Corse. Paris : France-Empire
Di Meglio, Alanu (2001): Macagni. Prosa Corsa. Aiacciu: Albiana
Diccionnaire français – corse / corsu – francese élaboré par i Culiolo (1998). Aiacciu: Éditions DCL
Fusina, Jacques (o. J.): Auf der Suche nach einer Sprache: http://www.corsica.net/corsica/de/discov/lang/index.htm
Goebl, Hans (1988): Korsisch: Externe Sprachgeschichte. In: Holtus, Günter / Metzeltin, Michael / Schmitt, Christian (Hrsg.): Lexikon der romanistischen Linguistik (LRL). Tübingen: Niemeyer, Bd. VI., S. 820-835
Lüdtke, Helmut (2005): Der Ursprung der romanischen Sprachen. Eine Geschichte der sprachlichen Kommunikation. Kiel: Westensee
Maestracci, Fabienne (2005): Contes et Légendes du PEUPELE CORSE. Aiacciu: Albiana
Tagliavini, Carlo (1998): Einführung in die romanische Philologie. Tübingen, Basel: Francke
Università Pasquale Paoli – Université Pascal Paoli: http://www.univ-corse.fr