Aosta-Tal

Feldforschungen: Dezember 2008 bis Januar 2009

Blick auf das Matterhorn (Monte Cervino) vom Aosta-Tal aus

Blick auf das Matterhorn (Monte Cervino) vom Aosta-Tal aus

Bekanntlich sind Hochgebirgstäler prädestiniert für die Konservierung seltener Sprachen, Dialekte und Mundarten. Zumindest in vergangenen Zeiten konnten die Menschen nur mit Schwierigkeiten von einem Tal zum anderen gelangen, weshalb es kaum zu Sprachmischungen kam. Im Aosta-Tal, einem Hochalpental im Dreiländereck Frankreich 6ndash; Italien 6ndash; Schweiz hat sich das Frankoprovenzalische erhalten und ist dort im Unterschied zu den frankoprovenzalischen Dialekten der Suisse romande und Südostfrankreichs noch sehr lebendig. Die meisten Valdostaner sprechen es als Muttersprache. Später kamen das Französische und das Italienische hinzu, weshalb sich Sprachkontakphänomene bis hin zu Sprachkonflikten entwickelt haben. Seit 1948 sind Französisch und Italienisch offizielle Amtssprachen (Pöll 1998: 38), während das Frankoprovenzalische weiterhin als Muttersprache fungiert.

Blick vom Kleinen Matterhorn auf das Ende des Aosta-Tals und den Mont Blanc

Blick vom Kleinen Matterhorn auf das Ende des Aosta-Tals und den Mont Blanc

Um die Sprachsituation im Aosta-Tal zu verstehen, ist es angebracht, einen Blick auf die Sprachgeschichte zu werfen. Vor der Ankunft der Römer lebte im Aosta-Tal, das damals zur Gallia Cisalpina gehörte, der keltisch-ligurische Volksstamm der Salasser. Weil sie sich wegen der Goldwäsche in den Bergen über die Römer empörten, schickte Augustus ein Heer gegen sie und ließ alle 36 000 Bewohner als Sklaven verkaufen oder in andere Gegenden versetzen. Nach der Unterwerfung des Aosta-Tals im Jahre 25 v. Chr. gründeten die Römer dort die Kolonie Augusta Praetoria Salassorum, das heutige Aosta.

Der Romanisierung folgte die Latinisierung, die den Grundstein für die Herausbildung einer romanischen Sprache legte. Nach dem Untergang des römischen Reiches ging Aosta 575 an das Frankenreich, womit die Ausrichtung zur Galloromania hin fixiert war (Pöll 1998: 40). Es entwickelte sich dort der Dialekt einer romanischen Sprache, die Graziadio-Isaia Ascoli 1873 Franko-Provenzalisch genannt hat, als Sammelbegriff für diejenigen galloromanischen Dialekte, die sich weder dem Französischen (langues d’oïl) noch dem Okzitanischen (langues d’oc) zuordnen ließen und eine eigenständige dritte Gruppe bildeten (Ascoli 1878: 71-120).

Zunächst gehörte das Aosta-Tal zum Mittelreich Lothars, dann zu einem der daraus entstandenen burgundischen Königreiche und schließlich geriet es in den Einflussbereich des deutschen Reiches, bevor 1032 das Haus Savoyen die Herrschaft übernahm. Im Jahre 1561 erhob der Savoyer-Herzog Emmanuel-Philibert das Französische zur alleinigen offiziellen Sprache. Französisch war nun die unangefochtene Dachsprache, bis im Jahre 1860 die frankophonen Gebiete Savoyen und Nizza an Frankreich, Aosta aber an Italien gingen (Pöll 1998: 40).

Cervinia im Aosta-Tal

Cervinia im Aosta-Tal

Mit der Eingliederung in den italienischen Staat wurde das Französische im Aosta-Tal sukzessive aus allen öffentlichen Domänen verdrängt, zugunsten des Italienischen. Die Verfechter der italienischen Einheit strebten eine einsprachige Nation an (Picoche / Marchello-Nizia 1998: 57). Der Französischunterricht in den Volksschulen wurde 1883 / 84 verboten, aber erst unter dem faschistischen Regime erreichte die Italianisierungspolitik (1922-1945) ihren Höhepunkt. Auf Grund der Trennung von Savoyen und wegen des massiven Zustroms von Italienern wanderten viele Valdostaner nach Frankreich ab. Ab 1943 bildeten sich im Aosta-Tal Résistance-Gruppen, die sich zum Teil für die Sezession von Italien und den Anschluss an Frankreich einsetzten. Von Seiten Frankreichs aus wurden diese Bestrebungen gut geheißen, sie trugen schließlich wesentlich zur Bereitschaft Italiens bei, dem Aosta-Tal im Jahre 1948 sein Autonomiestatut zu gewähren (Pöll 1998: 40-41).

Heute begegnen uns im Aosta-Tal folgende Sprachformen:

Valtournenche im Aosta-Tal

Valtournenche im Aosta-Tal

Interessante Forschungsansätze ergeben sich nicht nur aus soziolinguistischer und kontaktlinguistischer Perspektive im Zusammenhang mit der Triglossiesituation, sondern auch bezüglich der typologischen Einordnung des Frankoprovenzalischen. Vielfach noch als "Dialekt" bezeichnet, hatte schon Ascoli in seinen Schizzi franco-provenzali (1878) "mit den gleichen ausschließlich sprachlichen Kriterien, die er schon verwendet hatte, als er den rätoromanischen Mundarten Selbständigkeit und Einheit zuerkannte, eine neue romanische Dialektgruppe bestimmt, die er frankoprovenzalisch nannte und die in sich neben einigen nur ihr eigenen Zügen andere vereinigt, welche sie teils mit dem Französischen, teils mit dem Provenzalischen gemein hat, und die nicht das Ergebnis eines späteren Zusammenflusses verschiedener Elemente ist, sondern eine historische Eigenständigkeit besitzt, die sich kaum anders darstellt als die, um deretwillen man die anderen romanischen Hauptidiome unterscheidet’" (Ascoli 1878: 71; Tagliavini 1998: 344). Bei Tagliavini (1998) ist das Frankoprovenzalische eine von elf von ihm klassifizierten romanischen Sprachen, bei Lüdtke (2005) eine von siebzehn.

Aosta-Tal

Im Aosta-Tal

Das Frankoprovenzalische kommt nicht nur im Aosta-Tal vor. Jahrhundertelang war es die Umgangssprache in der französischen Region Rhône-Alpes, im Süden der Franche-Comté sowie im Osten der Region Burgund. Varietäten des Frankoprovenzalischen gab es auch in der Schweiz. Noch heute existieren Varietäten davon in den Kantonen Freiburg und Wallis. Im Dorf Evolène (Wallis) verwenden sogar die Kinder eine solche Mundart noch als Umgangssprache. In Italien spricht man Frankoprovenzalisch außer im Aosta-Tal auch in einigen Tälern der Region Piemont sowie in Apulien.

Historisch gesehen handelt es sich beim Franko-Provenzalischen zweifellos um eine romanische Sprache, schon allein auf Grund ihres direkten Ursprungs aus dem Vulgärlatein. Allerdings werden ihr viele Kriterien abgesprochen, die gemeinhin als Merkmale einer "Sprache" gelten. Frankoprovenzalisch hatte nie den Status einer offiziellen Sprache, es gab nie den Versuch einer Vereinheitlichung, es kam nicht als Unterrichtssprache in Frage. Andererseits existiert eine frankoprovenzalische Schriftsprache, vor allem um Lieder, Geschichten und andere literarische Texte zu tradieren. Der Sprachwissenschaftler Dominique Stich (2001) hat eine neue, standardisierte Rechtschreibung ausgearbeitet, in der Hoffnung, dass die Dialektschreiber künftig diese Schriftsprache nutzen.

Natürlich hat das Franko-Provenzalische auch Spuren im Französischen des Aosta-Tals hinterlassen. Die Sprachkontaktphänomene sowie die weitere Sprachentwicklung im Aosta-Tal sind ein spannendes Forschungsfeld, das noch viele Jahre Aufgaben für Linguisten bereit hält.

Sonnenuntergang in den Alpen

Sonnenuntergang in den Alpen

Literatur

Ascoli, Graziadio-Isaia (1878): Schizzi franco-provenzali AGI 3, S. 71-120; zit nach Tagliavini (1998): Einführung in die romanische Philologie. Tübingen, Basel: Francke

Bureau Régional pour l’Ethnologie et la Linguistique (BREL) (2006): Un anno in Valle d’Aosta. La Vallée d’Aoste au fil des jours. Li djor i sè sévon ma i sè sémbion pa. Turin: Priuli & Verlucca

Lüdtke, Helmut (2005): Der Ursprung der romanischen Sprachen. Eine Geschichte der sprachlichen Kommunikation. Kiel: Westensee

Picoche, Jacqueline / Marchello-Nizia, Christiane (1998): Histoire de la langue française. Pour comprendre toute l’evolution d’une langue de l’epoque carolingienne à nos jours. Paris: Nathan

Pöll, Bernhard (1998): Französisch außerhalb Frankreichs. Geschichte, Status und Profil regionaler und nationaler Varietäten. Tübingen: Niemeyer

Stich, Dominique (2001): Francoprovençal: proposition d’une orthographe supradialectale standardisée. Paris: Université René Descartes (thèse)

Stimm, Helmut (1953): Studien zur Entwicklungsgeschichte des Frankoprovenzalischen. Mainz: Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur

Tagliavini, Carlo (1998): Einführung in die romanische Philologie. Tübingen, Basel: Francke